Wo bitte geht’s zum Radweg?
Wo bitte geht’s zum Radweg?
In Berlin kann Fahrradfahren zur Herausforderung werden. Konzentration und höchste Aufmerksamkeit sind nötig. Zugeparkte Radwege und konfuse Verkehrsführungen machen es spannend.
Schulterblick, Schulterblick und nochmal Schulterblick. Selten habe ich auf dem Fahrrad den Kopf so oft über die linke Schulter nach hinten gedreht wie auf der Kreuzberger Oranienstraße. „Sie wird auch die ,Radfahrerhölle‘ genannt“, hat mir Dirk von Schneidemesser eben erklärt. Jetzt weiß ich warum.
Rückblende: Wir stehen mit den Rädern am Moritzplatz und schauen die Oranienstraße hinunter. Der hochgewachsene, sportlich wirkende junge Mann fährt täglich mindestens zehn Kilometer mit dem Fahrrad durch Berlin. An manchen Tagen sind es sogar 60 Kilometer. Heute will Dirk von Schneidemesser mit mir auf dem Fahrrad durch seinen Kiez strampeln. Der 33-Jährige ist aktiv in der der Gruppe „Fahrradfreundliches Friedrichshain-Kreuzberg“, eine Untergruppe der Initiative „Volksentscheid Fahrrad“. Die Initiative will die Berliner Politik und Verwaltung dazu antreiben, mehr Aktivität in Sachen Infrastruktur für Fahrradfahrer an den Tage zu legen. An vielen Stellen ist das wohl auch dringend nötig, wie ich selbst erfahre.
Die Oranienstraße wird von Häusern, meist fünf Stockwerke hoch, gesäumt. Rechts und links parken durchgehend Autos am Straßenrand. Die fahrenden Autos haben ausreichend Platz, ohne sich in die Quere zu kommen. Doch als Fahrradfahrer muss man sich konzentrieren und die Augen überall haben. Denn es sind viele Autos, Lkw und auch Radler unterwegs – auch wenn Dirk von Schneidemesser eben noch gesagt hat: „Heute ist nicht so viel los.“ Morgens würden sich die Autos die gesamte Straße entlang stauen.
Nun ist es früher Nachmittag. Einen durchgehend markierten Schutzstreifen für Radler gibt es nicht. Die finden sich nur am Oranienplatz und an den Kreuzungen. Dirk von Schneidemesser fährt ein türkisfarbenes Fahrrad mit Rennlenker und Ledersattel. Er trägt schwarze Radhandschuhe und eine rot umrandete Sonnenbrille. In zügigem Tempo und mit gleichmäßigen Tritten gibt er vor mir die Strecke vor. Ich bemühe mich, ausreichend Abstand zu den geparkten Autos am Straßenrand zu halten.
In diesem Jahr sind in Berlin schon zwei Radfahrer gestorben, weil sie gegen Autotüren geprallt waren, die die Fahrer direkt vor ihnen geöffnet hatten. Solch ein Wissen beeinflusst das eigene Verhalten, wie ich nun merke. Andererseits bin ich bedacht, nicht zu weit auf die Fahrbahnmitte zu rutschen, damit die Autos mich nicht zu eng überholen. Immer wieder schaue ich über die linke Schulter auf Fahrzeuge hinter mir.
Vor uns erscheint ein Transporter, der in zweiter Reihe hält. Das Umkurven gestaltet sich diesmal problemlos, weil wir gerade kein Auto unmittelbar hinter uns haben. „Sonst parken hier mehr Autos in zweiter Reihe“, erklärt mein Mitfahrer. Die Ampel am Oranienplatz zeigt rot. Wir halten an, müssen uns aber sehr dünn machen. Direkt neben dem Bordstein hat sich unmittelbar vor der Haltlinie eine große Pfütze gebildet, die sicherlich etwa drei Meter in der Länge misst und fast die gesamte Breite des Fahrradschutzstreifens einnimmt. „Eigentlich müsste so etwas direkt behoben werden“, denke ich.
An der Kreuzung an der Adalbertstraße haben wir Glück, nicht schneller unterwegs zu sein. Ein silberner Smart will rechts abbiegen und schiebt sich uns in den Weg. Da Fußgänger die Straße queren, muss er warten. Dirk von Schneidemesser hält an, sucht den Blickkontakt mit dem Fahrer und fährt weiter. Ich halte ebenfalls, lasse den Wagen aber lieber passieren. Auch wenn es nur ein Smart ist – im Zweifelsfall würde ich wohl den Kürzeren ziehen.
Kurz darauf unterqueren wir die Hochbahn am Görlitzer Bahnhof. An der Bushaltestelle leiten Markierungen uns auf den Gehweg. Eigentlich eine sinnvolle Lösung, um Konflikte mit Bussen zu vermeiden. Wäre die Stelle, an der es anschließend wieder auf die Straße geht, nicht von Autos zugeparkt – übrigens nicht die einzige Stelle auf unserer Tour. Das Parkverbot-Schild wird hier ignoriert.
Der Lkw mit den Bierkästen auf der Hebebühne, der in zweiter Reihe hält, klaut noch mehr Platz. Wir halten an. Statt hier auf die Straße zu fahren, nutzen viele Radfahrer einfach den breiten Gehweg weiter. „Das ist nicht gut, aber ich kann sie verstehen. Die Infrastruktur lädt dazu ein“, sagt Dirk von Schneidemesser. „Männlich und um die Dreißig“, ergänzt er, während er die Radler beobachtet, die an dieser Stelle auf der Straße weiterfahren. Das sei die Gruppe, die sich bei den herrschenden Straßenverhältnissen auf dem Rad am ehesten sicher fühlt.
Andere Menschen hingegen würden das Rad meiden. Er berichtet von der 93-jährigen Oma eines Freundes: „Sie spielt kein Skat mehr mit ihrer Freundin, die drei Straßen weiter wohnt. Mit dem Taxi ist es ihr zu teuer, zu Fuß ist es ihr zu weit und mit dem Fahrrad traut sie sich nicht – obwohl sie das physisch noch könnte.“
Von Schneidemesser führt aus: „Es gibt eine große Gruppe von Menschen, die sind interested but concerned, wie es im Englischen heißt. Sie würden gerne, aber sie fühlen sich unsicher.“ Hier ist der Senat gefragt, findet er. Es werde zwar begrüßt, wenn Menschen das Fahrrad nutzen. Doch mit den Problemen werde man alleine gelassen.
An manchen Stellen auf unserer kleinen Tour scheinen verwirrende Verkehrsführungen das zu bestätigen.
Wir fahren die Wiener Straße in Richtung Landwehrkanal und biegen rechts in die Ohlauer Straße ab. Würde Dirk von Schneidemesser nicht vorfahren, wäre ich wohl auf der Straße geblieben. Dass hier ein getrennter Rad- und Fußweg beginnt, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen – kein Schild, keine Markierungen, nichts.
Ähnlich irritiert bin ich später, als wir auf der vierspurigen Kottbusser Straße in Richtung Sonnenallee unterwegs sind und den Landwehrkanal überqueren. Denn abrupt hört dort der Fahrradstreifen auf der Fahrbahn an einer Fußgängerampel auf. Würde ich weiterfahren, würde ich wenige Meter weiter auf parkende Autos prallen. Immerhin sollen die rechten Fahrbahnen in beide Richtungen auf dem Kottbusser Damm künftig zu einem Streifen für Radler umfunktioniert werden. Die rechten Spuren werden von Autos eh kaum benutzt.
Derzeit ist in Berlin das erste Fahrradgesetz Deutschlands in Arbeit. Unter anderem sollen geschützte und baulich abgetrennte Radstreifen an den Hauptverkehrsstraßen und 100 Kilometer Radschnellweg entstehen. Die Verabschiedung des Gesetzes vor dem Berliner Abgeordnetenhaus verzögert sich allerdings noch. Bis dahin heißt es: Schulterblick, Schulterblick und nochmal Schulterblick.
Von Johannes Mager – 2017